Einführungsrede von Dr. Karen Meetz zur Ausstellungseröffnung 23.11.2007

Versiegelte Schriften

 „Hommage an Joseph-Marie Jacquard“ von Dorothea Reese-Heim

Bevor Sie, -meine Damen und Herren-, die „Hommage an Joseph-Marie Jacquard“ von Dorothea Reese-Heim gleich selbst in Augenschein werden nehmen können, werde ich an Ihrer Statt gewissermaßen meine Augen für Sie hinhalten. Natürlich kann es nicht darum gehen, Ihnen das Sehen in Stellvertretung abzunehmen. Dann hätte ich Ihnen ja einen Bärendienst erwiesen. Es soll nämlich niemand um das Vergnügen betrogen werden, die hier gezeigten Arbeiten selbst zu entdecken. Wenn ich jetzt mit Worten eine Besichtigung unternehme, soll Ihnen vielmehr ein erstes Nachverstehen ermöglicht werden.

Für die neunteilige Wandarbeit, (- die hier ausnahmsweise in Vitrinen installiert wurde -), „Codierungen. Hommage an Joseph-Marie Jacquards Lochkartensystem“, benutzte Dorothea Reese-Heim ein Lochkartenspiel aus der Weberei. Dem Franzosen Jacquard war die Vollendung des mechanischen Musterwebstuhls gelungen. Um 1805 hatte er dessen bisherige Steuerungstechnik durch das Endlosprinzip der Lochkartenführung ersetzt. In der Textilproduktion eingesetzte Jacquardkarten werden jedoch vollkommen anders geordnet als in dieser „Hommage“. Damit die Informationen der Lochkarten gelesen und in Musterschüsse umgesetzt werden können, werden sie zu einem Endlosband geschnürt. Nach dessen Vorgaben entsteht dann das Gewebe. Nun ist aber aus dem sukzessiven Nacheinander der Karten ein tektonisches Ineinander geworden. Das ist eine beredte Stilllegung, wie sich zeigen wird:

Ein Gebrauchsgegenstand, dem, so wie den Lochkarten, seine ursprüngliche Bestimmung genommen wurde, liegt sozusagen erst einmal auf dem Trockendock. Warum sollte man  Objekte überhaupt ihres Kontextes berauben und isolieren, was ist damit gewonnen? Welchen Sinn macht überhaupt das Jacquard-Kartenspiel ohne den mechanischen Musterwebstuhl, der zu ihm gehört? Das sei doch einfach, werden Sie denken, der Kartensatz solle als Teil für das Ganze stehen, pars pro toto. Das Spiel sei zwar nicht der Webstuhl selbst, verweise aber auf diesen, so wie eben die eine Sache die andere mit meinen könne. 

Willkommen im Spiegelkabinett der Repräsentationen!

Das aus seinen Zusammenhängen gelöste Objekt kennen wir aus den Naturwissenschaften. Hier heißt es Präparat. Von allen Seiten gedreht und gewendet, können seine Eigenschaften geprüft werden. Dem erkennenden Auge wird das wissenschaftliche Präparat zur analytischen Anschauung preisgegeben. Das wissenschaftliche Präparat spricht auch vom kunstgerechten Zurichten eines Schaustücks durch das geschickte Freilegen und Zergliedern eines Körpers. Zugleich meint es dessen sorgfältige Konservierung. Im Atelier der Künstlerin liegt nun ein solches Untersuchungsobjekt als gestalterisches Rohmaterial auf dem ästhetischen Seziertisch. Und in der Tiefensicht des künstlerischen Präparats wird augenfällig, was die Oberfläche der Dinge zuvor verhüllte. Form, Material und andere die Beschaffenheit einer Sache bestimmende Faktoren können nach und nach ästhetisch ausgekundschaftet werden. Auf einen finalen dekonstruktivistischen Trümmerhaufen lässt Dorothea Reese-Heim es bei ihren Untersuchungen jedoch nicht ankommen. Vielmehr bilden die Erträge ihrer ästhetischen Forschungen die ersten Bausteine eines künstlerischen Prozesses, an dessen Ende die Transformation durch Umordnung steht.

Die Jacquard-Karten, insgesamt 9 x 64 Stück, sind so gesteckt worden, dass ein regelmäßiges und in seiner Ausgangsform quadratisches Gitter gebildet wird. Werden die Winkel dieses Geleges verändert, verändert sich mit ihnen die Form, die sich in Rauten staucht oder streckt. Das wird systematisch durchgespielt, bis eine Serie entstanden ist. Die Elemente dieser neuen Serie haben ihre eigenen Gesetze. Es sind von den binären Codes der Karten abweichende Regeln, mit denen der Rhythmus des Musterwebstuhls neu überschrieben wird.

Wenn Dorothea Reese-Heim Wachs verwendet, um die Ergebnisse ihres Arbeitsprozesses zu fixieren, tritt ein geschichtsträchtiges Material auf den Plan. Wachs ist nicht nur ein gebräuchlicher plastischer Werkstoff, sondern auch ein altes Medium des Gedächtnisses.  Wie es im platonischen Dialog „Theaitetos“ heißt, sei die Seele einem wächsernen Guss vergleichbar, „ein Geschenk von der Mutter der Musen, Mnemosyne“, sagt Sokrates. Wenn wir uns an Gesehenes, Gehörtes oder selbst Gedachtes wiedererinnern wollen, dann drücken wir das in diesem Wachsblock wie mit einem Siegelring ab. Die Römer schrieben auf Wachstafeln, die „tabula cerata“ genannt wurden. Wurde das Notierte nicht mehr gebraucht, wurde die Oberfläche wieder glatt gestrichen. Auf diese Weise konnten Inhalte nach Belieben erinnert oder gelöscht werden. So wurde Wachs nicht nur zur Metapher für das Gedächtnis, sondern war auch dessen tatsächlicher externer Speicher. Diese Zusammenhänge spiegeln sich im Titel der Arbeit, die von Dorothea Reese-Heim eine „Hommage“ genannt wird. Eine Hommage ist gemeinhin eine Respektbezeugung gegenüber einer historischen Person. In unserem Fall ist es eben jener „Homme“, Joseph-Marie Jacquard, dem die Technik zur industriellen Herstellung von Bilddamasten zu danken ist. Schauen wir genauer hin, wird diese Leistung über die Formen des konventionellen Gedenkens hinausgehend gewürdigt. Denn der Beitrag Jacquards findet sich faktisch als Realie eingebettet in das Medium der Erinnerung. Sinnbildliches Verweisen und stoffliches Bewahren gehen ineinander über. 

Es ist augenfällig, dass die aus dem Jacquard-Kartenspiel hergestellten Gitter äußerlich der Struktur eines Gewebes gleichen. So ist zur Anschauung gebracht worden, was nicht mehr oder noch nicht zu sehen ist. Denn von den Stanzungen der Lochkarten ist schwerlich auf die Gestalt des Tuchs zu schließen. Das Kartengelege, das sich wie ein Gewebe dartut, ist dem Wachs als seinem Träger zutiefst verbunden. Zumindest deutet die Wortgeschichte auf eine solche Assoziierung, die buchstäblich eine Verflechtung ist: Wahrscheinlich ist nämlich „Wachs“ eine Bildung aus „Wabe“. Das ist nachvollziehbar, denn der Wabenbau der Bienen liefert den Rohstoff für dieses begehrte Material. Beide Begriffe, „Wachs“ und „Wabe“ haben indessen ältere etymologische Wurzeln im „Weben“. Das natürliche Haus der Bienen und das artifizielle Haus der Haut gleichen einander, sind sie doch mit unermüdlichem Fleiß hergestellt. Der Zuspruch der Sprache zeigt die gemeinsamen Wurzeln. So umschließt die „Hommage an Joseph-Marie Jacquard“ in magischer Verdichtung Anfang und Ende der Webkunst.

Dr. Karen Meetz, Universität Osnabrück